Flüchtlingspolitik: Ein Leben wie unter Toten
Immer mehr Geflüchtete auf der griechischen Insel Lesbos leiden unter schweren psychischen Problemen. Eine Suche nach den Ursachen der Verzweiflung.
Text: Meret Michel
Beinahe täglich geht Fadi Saleh die wenigen Schritte von Verzweiflung zu Hoffnung und wieder zurück. Er öffnet die Tür des Containers, in dem er mit seiner Familie lebt, läuft die schmale Metalltreppe hinab, die Strasse entlang, vorbei an Sommerzelten, an Kindern, die im Staub spielen, Männern, die am Boden gebrauchte Kleider verkaufen, bis zum hohen, mit Stacheldraht gekrönten Zaun. Dahinter: die europäische Asylbehörde EASO. Wie in einem Hochsicherheitstrakt. Vielleicht, hofft Saleh, würden die BeamtInnen ihm diesmal den schwarzen Stempel in den Ausweis drücken. Damit er diese verdammte Insel endlich verlassen kann.
Wenn es dann heisst, er solle an einem anderen Tag wiederkommen, geht Saleh zurück, in seinem Ausweis noch immer den roten Stempel, der ihn auf Lesbos festhält. Mit jedem Tag wird die Verzweiflung grösser. «Ich denke oft daran, mich umzubringen», sagt er. Zweimal hat er es bereits versucht. «Wir leben hier sowieso schon wie die Toten.»
15 000 Flüchtlinge sitzen derzeit auf den griechischen Inseln in der Ostägäis fest und warten ab, ob sie in die Türkei zurückgeschickt werden oder auf das griechische Festland reisen dürfen. In den Lagern fehlt es praktisch an allem: Wasser fliesst nur wenige Stunden täglich, der Strom fällt manchmal während Tagen aus. Für das Essen stehen die Leute stundenlang Schlange, auch Medikamente sind knapp.
Willkommen im Gefängnis
Hinter dieser trostlosen Kulisse entfaltet sich eine weniger sichtbare, dafür umso nachhaltigere Krise. Immer mehr Flüchtlinge leiden an psychischen Problemen: Panikattacken, Selbstverletzungen, Suizidversuche. Täglich. Die Hilfsorganisation Médecins Sans Frontières (MSF) schreibt in einem Bericht Mitte Oktober von einem «psychologischen Notstand»; auf einer mittlerweile geschlossenen Warteliste für PatientInnen mit schweren psychischen Problemen stehen über 500 Personen.
Das ehemalige Militärareal Moria liegt fast malerisch in den Hügeln von Lesbos, einige Kilometer von der Küste entfernt zwischen Olivenbäumen und Steinmauern. Doch die dicke Betonmauer, Zaun und Stacheldraht lassen keine Missverständnisse zu: Das ist kein idyllischer Ort. Über 5000 Menschen leben zurzeit im Lager, Platz bietet es eigentlich für 2300. Durch das Gitter am Eingang sieht man Zelte, die sich direkt dahinter den Weg entlang reihen, der Gestank der Toiletten beisst in der Nase, der Bach daneben schäumt vor ausgelaufenem Shampoo. «Welcome to prison» hat jemand an die Mauer gesprayt. Willkommen im Gefängnis.
Gerade ist im Container das Licht ausgegangen, Stromausfall, und Familie Saleh sitzt im Dunkeln: der achtzehnjährige Fadi, seine Mutter, sein älterer Bruder Muhammad und sein kleiner Cousin Bilal. Seit fast vier Monaten sind sie in Griechenland, geflohen vor dem Militärdienst in Syrien. «Als wir ankamen, dachten wir, wir könnten direkt weiterreisen», sagt Muhammad Saleh. Sie wollen zu ihrem jüngsten Bruder, der seit zwei Jahren mit seinem Onkel in Deutschland lebt. «Als sie uns nach Moria brachten, war ich geschockt. Ich hatte das Gefühl, ich bin wieder im Gefängnis.»
Sieben Jahre Krieg in Syrien liegen hinter ihnen. Ihr Haus in Jarmuk am Rand von Damaskus ist zerstört. Ihr Vater wurde bei einem Bombenangriff getötet, Muhammad und Fadi verbrachten mehrere Monate in den Verliesen des syrischen Regimes.
Fadi war vierzehn, als ihn der Geheimdienst aus dem Schulunterricht heraus verhaftete und drei Monate in Sednaja einsperrte, dem Militärgefängnis, das Amnesty International in einem Bericht als «Schlachthaus» bezeichnete. Viel erzählt er nicht von damals. Nur, dass er in Moria immer wieder von der Leiche träumt, die die Wachen einmal in seine Zelle warfen und drei Tage lang liegen liessen.
Muhammad zog die Armee zwei Jahre später an einem Checkpoint aus dem Bus, als er für seine Familie Essen holen wollte. Er kam in die Abteilung 235 des Militärgeheimdienstes, auch bekannt unter dem Namen «Palästina». Nach vier Monaten entliessen sie ihn, es habe sich um eine Verwechslung gehandelt. «Die ganzen Schläge und die Folter wegen einer Verwechslung.» Muhammad zieht das Hosenbein hoch und fühlt nach dem kleinen Knubbel oberhalb seines linken Knies: ein Stück Plastik, das man ihm unter die Haut gebrannt habe.
Im letzten halben Jahr haben wieder deutlich mehr Flüchtlinge die griechischen Inseln erreicht, zwischen 2000 und 5000 jeden Monat. Die meisten sind aus Syrien und dem Irak geflohen, unter ihnen viele Opfer von Folter oder schwerer Gewalt. Nach griechischem Gesetz gelten sie als schutzbedürftig, gleich wie etwa unbegleitete Minderjährige, Schwangere oder Menschen mit Behinderungen. Sie entgehen dem Schnellverfahren auf der Insel und werden nicht in die Türkei ausgeschafft. Stattdessen steht ihnen eine angemessene Versorgung zu, und sie dürfen auf das griechische Festland.
Zwischen den Füssen der Salehs köchelt Kardamomkaffee. Den Gaskocher haben sie von den neunzig Euro gekauft, die das UNHCR den Flüchtlingen gibt, «um ihre Würde wiederherzustellen». Für Familie Saleh bedeutet der Gaskocher vor allem, dass sie sich auf einen längeren Aufenthalt in Moria eingestellt haben.
Schutzbedürftigkeit als Obsession
Weder Muhammad noch Fadi Saleh wurden bei ihrer Ankunft Anfang September als schutzbedürftig eingestuft. Stattdessen kamen sie nach Moria, wo sich ihr Zustand seither verschlechtert hat. Fadi verlässt tagsüber kaum den Container, nachts spricht er manchmal im Schlaf: Er wolle zu seinem Vater, er wolle sterben. Als die Mutter Anfang Oktober zur Familienzusammenführung mit ihrem Sohn in Deutschland die Erlaubnis erhält, nach Athen zu reisen, bekommt er Angst: Was, wenn sie ihn hier zurücklässt? An diesem Tag versucht er das erste Mal, sich die Pulsadern aufzuschneiden. Sein Bruder Muhammad kommt gerade noch rechtzeitig.
Die Mutter bleibt auf Lesbos. Und die Brüder gehen zu MSF, die auf der Insel eine Klinik für schwer traumatisierte Flüchtlinge betreiben. Nachdem eine Psychologin den beiden psychische Probleme attestiert hat, gehen die Brüder damit wieder zur Asylbehörde. Muhammad wird als schutzbedürftig eingestuft, Fadi nicht. Ein zweites Mal versucht er, sich das Leben zu nehmen.
MSF berichtet, dass weniger als ein Drittel ihrer PatientInnen, die Folter erlebten, als schutzbedürftig eingestuft waren. Die Asylbehörde ist mit der grossen Zahl der Registrierungen überlastet, und viele der BeamtInnen sind nicht darin geschult, Symptome schwerer Traumata zu erkennen.
Die Anwältin Lorraine Leete beobachtet mit wachsendem Unbehagen, wie die Einstufung als schutzbedürftig unter den Flüchtlingen zur Obsession wird. «Viele sehen das als den einzigen Weg, von der Insel wegzukommen. Manche verwenden mehr Energie darauf, als schutzbedürftig eingestuft zu werden, als auf die Dokumentation ihres Falls.» Sogar Kinder hätten das verinnerlicht: «Ich sah ein Kind, das hingefallen ist und dann sagte: ‹Jetzt kriegen wir unsere Papiere und können nach Athen!›»
Die EU-Kommission versucht inzwischen, auch diesen Weg einzuschränken. Im Dezember 2016 empfahl sie der griechischen Regierung, schutzbedürftige Personen nicht länger vom Schnellverfahren auszuklammern. So könnten auch sie in die Türkei zurückgeschickt werden. Derzeit arbeitet sie zusammen mit dem griechischen Gesundheitsministerium daran, die Kriterien zu konkretisieren, um die Zahl an Schutzbedürftigen zu senken.
Ein Teufelskreis: Schwer traumatisierte Flüchtlinge werden nicht als solche erkannt und sind gezwungen, monatelang in Moria zu bleiben. Für ihren Gesundheitszustand hat das verheerende Folgen. Gleichzeitig versuchen andere bis zur Selbstverletzung alles, um ein «Ja» bei der Schutzbedürftigkeit zu erlangen. Und die EU-Kommission versucht, den Weg aufs Festland weiter einzuschränken.
Es ist dunkel, auf dem Weg zum Ausgang drängt sich eine Gruppe Männer um zwei Streithähne, die gerade aufeinander losgehen wollen. In der Menge reckt einer einen Stuhl in die Luft, als wolle er damit zuschlagen. «Das geschieht hier jeden Tag», sagt Muhammad. Ein kleiner Streit kann sich in Sekunden zur Massenschlägerei steigern. Einmal habe ihn auf dem Weg zur Toilette ein Stein am Kopf getroffen. Seine Mutter gehe nachts nur in seiner Begleitung raus, aus Angst vor Übergriffen. Manche Frauen, erzählen hier viele, trügen Windeln zum Schlafen, damit sie sich den Weg zur Toilette sparen können. Moria ist wie ein Dampfkochtopf mit Überdruck: Es kann jederzeit in die Luft fliegen.
Viele Aggressionen nehmen ihren Anfang in den Cafés vor dem Eingang zum Lager. An den Metalltischen sitzen junge Männer und trinken Bier, aus den Boxen dröhnt arabischer Dabke. Viele muslimische Flüchtlinge haben in Moria den Alkohol entdeckt, ertränken ihr Leid, bis sich ihre Spannung als Aggression entlädt.
Muhammad al-Faras ist zwanzig. Er stammt aus dem Umland von Deir ez-Zor im Osten Syriens. Vor vielen Jahren hütete er Schafe, ging zur Schule und schwamm mit seinen Freunden im Euphrat. Doch ein normales Leben führt er schon lange nicht mehr. Mit dem Krieg kam der IS, der ein Massaker an seinem Stamm verübte. In Europa angekommen, scheint Faras jeglichen Halt zu verlieren.
Zerbrochen an der Situation
Ein Abend Anfang Dezember, Faras reisst den Stoff seines Zeltes auf und lässt sich im Eingang auf einen Campingstuhl fallen. Gestern war er mitten in diesem unübersichtlichen Haufen, der sich beinahe geprügelt hätte. Er habe schlichten wollen, sagt er, aber das stimmt vielleicht nicht. Denn wenn Faras trinkt, schlägt er selber manchmal zu. Jetzt zieht er eine Dose Bier aus der Plastiktüte neben sich, setzt an und leert sie in einem Zug. Seine Freunde sehen sich an, sie ahnen, was jetzt kommt. Mit einem Ruck erhebt er sich, verschwindet nach draussen und kehrt mit einer leeren Dose in der Hand zurück. Er reisst sie auseinander und presst das Metall zu einer Spitze zusammen, zieht sein T-Shirt aus. Seine Hand mit der Dose schwebt kurz über seiner Brust, als zögere er. Dann schlägt er sich mit schnellen Bewegungen blutige Striemen in die Haut.
Seinen Freunden gelingt es, ihm die Dose aus der Hand zu ziehen. Faras beginnt zu weinen, sagt, er sei allein, seine Mutter tot, und seine Freunde würden morgen nach Athen reisen und ihn zurücklassen. Er stürzt aus dem Zelt, kehrt mit einer weiteren Dose zurück. Und fängt wieder an, auf seine Brust einzuhacken. Zwei Stunden wird das so hin- und hergehen, schreien, zuschlagen, weinen, irgendwann übergibt er sich und liegt nur noch kraftlos da.
Während sich Fadi Saleh in seiner Verzweiflung immer mehr zurückzieht, bricht sie bei Muhammad al-Faras in Form von Aggression und Angst aus ihm heraus. Er richtet seine Aggressionen nicht nur gegen sich selber, sondern auch gegen andere – ein paar Tage zuvor schlug er betrunken einen Freund. An der Situation in Moria zerbrechen sie beide.
An einem kalten Morgen Anfang Januar hat Fadi Saleh genug. Er steckt ein paar Rasierklingen ein, öffnet die Tür des Containers, steigt die Metalltreppe hinunter, geht die Strasse entlang bis vor den Zaun der EASO. Dort stehen bereits eine Handvoll Leute, es ist kurz vor sieben, gleich öffnet die Asylbehörde. Saleh stellt sich vor den Eingang, blockiert die Tür mit seinen Armen: «Ich will hier weg», schreit er, «wir sterben hier, das ist kein Leben!» Er fängt an, gegen die Tür zu schlagen, immer wieder. Er hatte vor, sich mit der Rasierklinge die Arme zu zerkratzen, so lange, bis sie ihn reinlassen. Nun kommt ein Übersetzer von der anderen Seite und lässt ihn herein. Eine Angestellte bedeutet Saleh zu warten, sie nimmt seinen Ausweis, verschwindet. Nach einer Viertelstunde kehrt sie zurück. «Du darfst gehen», sagt sie. Saleh nimmt seinen Ausweis. Ein schwarzer Stempel prangt nun darin. Er darf diese verdammte Insel endlich verlassen.